Prof. Dr. Walter Smerling zur Michael Souvignier Ausstellung "Auf den zweiten Blick"

Sehr geehrte Damen und Herren,

als ich von Michael Souvignier , gefragt wurde, an
der heutigen Ausstellungseröffnung teilzunehmen,
habe ich gerne zugesagt, denn es mir ein großes
Vergnügen und eine besondere Ehre, diese
gelungene Werkschau hier in den Kunsträumen
der Hornbach Stiftung mit Ihnen zu eröffnen.

Die Fotokunst Souvigniers verfolge ich seit langem
mit großem Interesse und ungebrochener Faszination.

Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, eine
Auswahl seiner New York-Fotografien am Bonner Sitz der Stiftung für Kunst und Kultur auszustellen. Darüber, wie auch über den jahrelangen persönlichen Austausch, der sich Souvigniers Engagement als Mitglied der Stiftung verdankt,
bin ich sehr glücklich.

 

Die heutige Ausstellung ist ungleich umfassender – eine Retrospektive geradezu, denn sie  versammelt Fotoarbeiten von 1983 bis heute.
 Souvignier erlaubt uns damit tiefe Einblicke in sein Schaffen. Kontinuitäten, Charakteristika, aber auch Entwicklungen und Veränderungen werden erkennbar.

Schon der erste, oberflächliche Blick auf die Exponate verrät mindestens zwei Qualitäten, die für Michael Souvignier als Mensch und Künstler bezeichnend sind:

Seine ungeheure Kreativität und Produktivität!

 

Wir alle kennen Souvignier auch als herausragenden, preisgekrönten Filmproduzenten. Und damit sind wir
bei einer weiteren, beeindruckenden  Dimension seiner Schaffenskraft, die gleichwohl von seiner filmischen wie fotografischen Arbeit nicht  zu trennen ist.  Denn

„Mit der Fotografie fing sein  berufliches Leben an,  
dann lernten die Bilder bei ihm  laufen. Und wie
er sagt, ich zitiere:
 Aus der eingefrorenen
 sechzigstel Sekunde wurden dann Bilder und Geschichten für die Leinwand, für das Fernsehen,für das Handy. Erst als Kameramann, als Regisseur, dann als Produzent. Jetzt schließt sich der Kreis.“


Mit seinen fotokünstlerischen Arbeiten kehrt  Souvignier zu seinen Ursprüngen zurück.

Die zweite, unmittelbar ins Auge springende Qualität ist Souvigniers konsequente künstlerische Hingabe an die Realität. - Aber was bedeutet hier ‚Realität‘?

„Die Realität ist nur eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige“.

Dieser Satz stammt von Albert Einstein und ist auf die physikalische Relativität von Raum und Zeit gemünzt. Nicht einmal die Physik, als strenge Naturwissenschaft, kann uns eine zweifelsfreie Sicherheit darüber verschaffen, dass das, was wir im Hier und Jetzt wahrnehmen und zu erkennen glauben, Realität ist, geschweige denn die Realität.

 

Und doch gehen wir immer wieder – ‚hartnäckig‘ eben – davon aus. Auf eben dieses illusorische Moment der Realität, das ist zumindest meine Wahrnehmung, zielen die fotokünstlerischen Arbeiten von Michael Souvignier.

Von den ersten Anfängen in den 1980er-Jahren an, also durchaus auch hartnäckig, suchen sie den Realitätsgrad unserer Wahrnehmungen von Raum und Zeit auszuloten. Den Ausgangspunkt dazu bilden stets konkrete Orte und insbesondere New York, die Stadt seiner Träume, wie Souvignier selbst sagt; auf sie kommt er immer wieder zurück.

Schon die frühen, schwarz-weiß gehaltenen Aufnahmen von New York präsentieren eindringliche, oft auf spezielle Details fokussierte Perspektiven fernab touristischer Sehgewohnheiten.

 

Sie gehen nicht im Label „Reportage-Fotografie“ auf, sondern schillern zwischen Dokumentation und Allusion. Etwa sieht man da Wolken. Dass sie so tief hängen, verwundert, bis man schließlich gewahr wird, dass sie nicht etwa aus der Atmosphäre, sondern aus den Abluftschächten im Untergrund kommen. So wird man sich am Time Square einer versteckten ‚untergründigen‘ Realität bewusst. Viele dieser Aufnahmen wirken auch eigentümlich zeitenthoben, könnten aus einer anderen Epoche, etwa den 50er-Jahren, stammen.

So können wir als Betrachtende die Zeit und oft auch den Raum des ins Bild Gebannten nicht unmittelbar einordnen, werden in unserer Wahrnehmung verunsichert.

 

 

Wir sind gezwungen, genau und mindestens ein zweites Mal, hinzusehen, um uns zu orientieren, das Abgebildete zu kontextualisieren. - „Auf den zweiten Blick“ - der Titel der Ausstellung ist sehr treffend gewählt. Doch selbst auf den zweiten Blick gelingt das nicht immer.

Auf diese Weise kann dann auch der eigene, reflexhafte Orientierungsdrang bewusst werden und das, was man unversehens selbst in die Bilder hineinlegt. Die ins Bild gebannte Realität vervielfältigt sich, Realitäten des Bildes und des Betrachters spielen ineinander, kommentieren oder hinterfragen sich gegenseitig.

Mit dem Einsatz von Farbe und einer stark inszenierten Serialität gewinnen die aktuelleren Arbeiten einen ganz eigenen, mitunter fast psychadelischen Reiz.


 Die einzelnen Bildmomente gehen in Serie; man ist angehalten, nicht nur die Bildinhalte als Einzelszenen zu erfassen, sondern auch ihr Zusammenspiel in der Zeit. Zwangsläufig beginnt man, nach Unterschieden zu forschen, kleinsten Veränderungen nachzuspüren, Geschichten zu entziffern. Wo sich keine Narration erschließt und gar noch Spiegelungen hinzukommen, gerät das Abgebildete, das Motiv, gänzlich in den Hintergrund. Vordringlich wird die fotografische Technik, die Farbentwicklung, das Bildarrangement als solches - die Fotografie spielt in die abstrakte Malerei hinüber. In dem Grade, in dem diese Bilder den Betrachtenden auf der Ebene des Motivs von der Realität entlasten (oder einen schwindelerregenden Clash von Realitäts-Perspektiven erzeugen), führen sie die Realität des Mediums vor Augen. Und die Auseinandersetzung mit der Realität ist für Michael Souvingier eine permanennte Herausforderung.


Realität und Wahrheit werden unterschiedlich individuell bewertet und empfunden. Manch einer meint, die Wahrheit gepachtet
zu haben. Aber tatsächlich geht es uns psychologisch gesehen selten um die Wahrheit. Was uns Menschen stattdessen antreibt, ist die Sehnsucht nach Erklärung. Nach Verstehen-Wollen. Nach Struktur mit der wir den Alltag bwältigen könenn. Vielleicht auch nach Zugehörigkeit in einer Gruppe, die unsere Überzeugung teilt.

Bei all diesem Streben nach Erkenntnis kann uns die Kunst, in diesem Fall das Betrachten von Bildern entgegenkommen.

Im besonderen, wenn wie hier in zahlreichen Fotografien , Komplexität, Grautöne und Widersprüche aufeinanderstoßen.

 

Wenn Kunst diese unterschiedlichen Fragen aufwirft, wenn sie das schaffen kann, dann hat sie eine wichtige Aufgabe erfüllt.

Georg Baselitz nennt das: Damit im Kopf wieder etwas stattfindet.

Und diesen Anspruch darf diese Ausstellung miot 80 Fotografien von Michael Souvignier allemal erheben.
Ich habe einmal gelesen, Gerhard Richter habe die Unschärfe in die Kunst gebracht. Ich halte das für eine ganz besondere Form des Realismus. – Denn so ist sie unsere Welt. Unkonkret, Unscharf, Nicht eindeutig, sondern vieldeutig. Nicht nüchtern , sondern emotional. Die Unaufrichtigkeit, die Verlogenheit, das Unwürdige gehört leider auch dazu.  

 


Die hier ausgestellten Werke sind auch Spiegel der Welt. Und Spiegel für uns.
Kunst ist was sie ist. Deutungen vielleicht schon ein erster Anflug von Vandalismus. Über die Kunst lernen wir viel über unsere Haltung. Und wir können uns an ihr orientieren. Kunst hat Charakter, Hinter ihr stehen klare Werte. Sie artikuliert sich und vor allem – und das wird hier auf den zweiten Blick in den Werken von Michael Souvignier sehr deutlich – die Fotografie ist der Philosophie recht nahe. Diese  Kategorien und Phänomene der Wahrnehmung, der Wirklichkeit und des Daseins in Gedanken und in  Sprache zu übersetzen und zu definieren, zu erklären und zu verstehen  das ist das Besondere, das kunst und Fotografie ausmachen kann. Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren, wünsche ich dieses Erlebnis der Wahrnehnehmung.

 

 

 

 

Parallele zu den Filmen: setzen gerade existentielle Erfahrungen ins Bild, die die gewöhnliche Wahrnehmung unserer Realität sprengen und uns zwingen, uns neu zu orientieren (Das Wunder von Legendre); bzw. Erfahrungen, die keinen Raum in der Realität haben sollten (Contargan-Kinder), und erweitern so das anerkannte Spektrum der Realität


Michael Souvignier, geboren 1958 in Essen, studierte Foto- und Filmdesign. Nach seinem Diplomabschluss war er zunächst bei zahlreichen Produktionen als Kameramann und Regisseur tätig, bevor er 1985 die unabhängige Filmproduktionsfirma Zeitsprung gründete. Seit 2007 widmet er sich parallel wieder der Fotografie.